Montessori-Pädagogik Die Eigenkräfte des Kindes fördern

Warum sollen immer die Kinder zu den Erziehern aufschauen? Eigentlich sind doch die Kinder und die Entwicklung ihrer Fähigkeiten das Besondere. Dieses Konzept verfolgt auch die Montessori-Pädagogik. In einem Montessori-Kindergarten werden Kinder gezielt gefördert.

Montessori-Pädagogik:  Die Eigenkräfte des Kindes fördern
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Zentrales Anliegen der Pädagogik Maria Montessoris ist eine "neue" Grundhaltung und Einstellung dem Kind gegenüber: Nicht das Kind soll seine Erzieherin, seinen Erzieher bewundern, sondern umgekehrt; die Erzieherin oder der Erzieher bewundert die Fähigkeiten des Kindes und beobachtet, wie es sich zum Menschen entwickelt. Ziel ist es, die Eigenkräfte des Kindes voll zur Entfaltung kommen zu lassen. Die sogenannte "Montessori-Pädagogik" geht zurück auf Maria Montessori, die 1870 in Chiaravalle bei Ancona in Italien geboren wurde. Sie war Ärztin und Assistentin an der Universitätsklinik in Rom, was in der damaligen Zeit für Frauen keineswegs üblich war. An der Nervenklinik war sie dort mit der medizinischen Betreuung und Beobachtung geistig behinderter Kinder beschäftigt. Durch diese Arbeit entwickelte Montessori ihr Interesse an der allgemeinen Pädagogik. Sie ergänzte ihre medizinische Ausbildung durch Studien der Psychologie und Pädagogik. Im ersten Kinderhaus im römischen Elendsviertel San Lorenzo, das 1907 eröffnet wurde, erprobte Montessori ihre gesammelten Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern. In ihren Aufzeichnungen und Vorträgen spricht sie immer wieder von den wichtigen Entdeckungen, die sie dort gemacht habe.

Bedeutende theoretische Arbeit

Maria Montessori hinterlässt der Nachwelt ein bedeutendes theoretisches Werk. Ihr erstes grundlegendes Buch wurde 1901 veröffentlicht. 1913 wurde es ins Deutsche übersetzt unter dem Titel "Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter". 1909 hielt sie in Rom den ersten Einführungskurs in ihre pädagogische Praxis und Theorie. Der 2. Weltkrieg verhinderte eine Weiterentwicklung ihrer Pädagogik. Sie hielt sich während dieser Zeit in Indien auf und fühlte sich der Haltung Gandhis verwandt. Während der Internierung durch die Alliierten hielt sie weitere Kurse ab und konnte ihre Studien fortsetzen. Nach dem Krieg kehrte sie nach Europa zurück, leitete 1946 einen Kurs in London. Seit 1949 lebte sie in Holland, wo sie 1952 starb.

Den Blick immer auf das Kind gerichtet

In der Pädagogik Maria Montessoris geht es primär darum, den Blick auf das Kind zu richten und seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entdecken, die es ganz von alleine und ohne Lern- und Förderprogramme entwickelt. Für Montessori sind dabei zwei Punkte wichtig: Erstens gilt es, eine "vorbereitete Umgebung" für das wahrnehmende Lernen zu schaffen - d.h. eine sorgfältig geplante Umgebung , die dem Lernen des Kindes entgegenkommt. Zweitens verlangt Montessori eine "neue Lehrerin": Entgegen den alten Erziehungsidealen muss die Erzieherin verstehen, dass die Umgebung den Kindern gehört. Die Erzieherin soll den Kindern nur Hilfestellung geben, um Herr ihrer Umgebung werden zu können. Für Montessori besitzen alle Lebewesen die Fähigkeit, aus der Umgebung genau das auf- und anzunehmen, was für sie notwendig ist. Die Kinder entwickeln ihre Fähigkeiten in Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung. Im Sinne Jean Piagets, der als junger Mann mit der Montessori-Pädagogik in Berührung gekommen und Mitglied der Schweizer Montessorigesellschaft war, "denkt" das Kind, indem es wahrnimmt. Auch in der präoperationalen Phase spielt die Wahrnehmung und Handlung eine wichtige Rolle für die intellektuelle Entwicklung des Kindes. Ebenso wie für Piaget ist auch für Maria Montessori Wahrnehmung - als aktive Aufnahme von äußeren Eindrücken in das Innere des Kindes - und Handlung - als Aktivität, die Spuren des inneren Denkens in der Außenwelt hinterlässt - entscheidend für die frühkindliche Entwicklung.

Erlernen von Fähigkeiten in sensiblen Perioden

Montessori spricht im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kindes von "sensiblen Perioden": Damit sind Zeitphasen gemeint, in der das Lebewesen bestimmte Fähigkeiten erlernt. Im folgenden sind diese unterschiedlichen sensiblen Perioden aufgeführt: "Von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr: Dies ist die Zeit der besonderen Aufnahmefähigkeit für alle Umwelteinflüsse und Sinneserfahrungen. - Von eineinhalb bis drei Jahren: In dieser Phase dominiert die Sprachentwicklung. - Von eineinhalb bis vier Jahren: Die Muskeln und die Koordination entwickeln sich. Das Kind hat einen besonderen Drang nach Bewegung, denn sein Interesse an Gegenständen wächst und es bewegt sich auf diese zu. - Von zwei bis vier Jahren: Jetzt verfeinert das Kind seine Bewegungen, entwickelt ein erstes Verständnis von Raum und Zeit, beschäftigt sich mit Wahrheit und Wirklichkeit. - Von zweieinhalb bis sechs Jahren: Durch zunehmende Sinneserfahrungen kommt es zu einer Verfeinerung der Wahrnehmung. - Von drei bis sechs Jahren: Das Kind wählt sich den Erwachsenen zum Modell und ist besonders empfänglich für Einflüsse seitens dieser. - Von dreieinhalb bis vier Jahren: Das Kind zeichnet viel und beginnt mit ersten, selbst entwickelten Schriftzeichen (nicht vergleichbar mit späterem Schreiben!). Von viereinhalb bis fünfeinhalb Jahren: Das Kind beginnt mit der Frühstufe des Lesens." (siehe Literaturangaben, Becker-Textor, 34)

Sinnesmaterialien sollen Ordnung und Klarheit schaffen

Um diese sensiblen Peroden zur Geltung kommen zu lassen, muss der Erwachsene eine Umgebung schaffen, in der das Kind durch eigenes Tun und schöpferisches Lernen seine Fähigkeiten entwickelt und selbständig wird. Maria Montessori geht davon aus, dass die sinnliche Wahrnehmung unverzichtbare Voraussetzung für die begriffliche Wahrnehmung ist. Deshalb legt sie sehr viel Wert auf "Sinnesmaterialien", die die Beobachtung, die Wahrnehmung und das Zuordnungs- und Unterscheidungsvermögen fördern. So soll das Kind vom konkreten Schauen zum abstrakten Denken gelangen. Das Sinnesmaterial soll Ordnung und Klarheit beim Kind schaffen. Maria Montessori schreibt dazu: "Das Sinnesmaterial besteht aus einem System von Gegenständen, die nach bestimmten physikalischen Eigenschaften der Körper wie Farbe, Form, Maße, Klang, Zustand von Rauheit, Gewicht, Temperatur usw. geordnet sind. Jede Gruppe verfügt über die gleiche Eigenschaft, jedoch in verschiedenen Abstufungen, bei der sich der Unterschied von einem Gegenstand zum anderen gleichmäßig verändert und, wenn möglich, mathematisch genau festgelegt ist. Es wird nur ein Material ausgewählt, das sich erfahrungsgemäß für die Erziehung eignet, das kleine Kind tatsächlich interessiert und bei einer spontanen und wiederholt ausgesuchten Übung beschäftigt".(siehe Literaturangaben, Montessori).

Im Rahmen einer "Drei-Stufen-Lektion" (s.u.) soll am Ende des Lernprozesses durch den Umgang mit den Sinnesmaterialien die Namensgebung der Eigenschaften der Dinge stehen. D.h. von der sinnlichen Wahrnehmung soll ein Lernschritt hin zum abstrakten Denken gemacht werden. Durch das Hantieren mit den Sinnesmaterialien gelangen die Kinder so selbsttätig zum Denken. Diese Art des Lernens versteht Montessori als eigenständige Lebensbewältigung: Kinder schrecken durch dieses Lernen nicht mehr vor Aufgaben zurück, sondern sie verarbeiten diese durch ihr Wissen und Können, das sie im Umgang mit den Materialien gelernt haben.

Die pädagogische Praxis im Sinne Maria Montessoris legt Wert auf die Förderung der Wahrnehmung und des Ordnungssinnes des Kindes. Mit Ordnung ist allerdings nicht die Ordnung der Erwachsenen gemeint, sondern der Ordnungssinn der Kinder in ihrer jeweiligen Altersstufe. Die Lernpraxis im Sinne der Pädagogik Montessoris will demnach insbesondere die Sinneswahrnehmung schulen: Die Schulung des Kindes verläuft in der "Drei-Stufen-Lektion": "1.Stufe: Assoziation von Sinneswahrnehmung und Namen - das Kind bekommt z.B. zwei Farben und die Erzieherin sagt: "Dies ist rot, dies ist blau". 2. Stufe: Wiedererkennen des dem Namen entsprechenden Gegenstandes - die Erzieherin sagt: "Gib mir rot, gib mir blau". 3. Stufe: Erinnerung an den dem Gegenstand entsprechenden Namen - die Erzieherin zeigt dem Kind den Gegenstand und fragt: "Was ist dies?", und es antwortet: "Dies ist rot, dies ist blau". In der Drei-Stufen-Lektion soll das Kind den Gebrauch des Gegenstandes modellhaft von der Erzieherin lernen. Erst am Ende des Umgangs mit dem Material steht die Namensgebung der Eigenschaften des Materials. Das Lernen vollzieht sich somit von der praktischen Auseinandersetzung mit der Umgebung und ihren Gegenständen hin zum abstrakten Begreifen der Umgebung des Kindes.

Spezielle didaktische Materialien

Die Sinneserziehung nach Maria Montessori geschieht nun aber nicht in der natürlichen oder sozialen Umwelt, sondern in einem pädagogisch hergestellten, künstlichen Arrangement spezieller didaktischer Materialien. Die Sinnesmaterialien haben die Aufgabe, dem Kind beim Erlernen des Ordnungssinnes zu helfen. Das bereitgestellte Material sollte dabei nur eine Eigenschaft herausstellen. Wenn es z.B. um das Erlernen der Eigenschaft "Länge" geht, sollten die dazu bereitgelegten Holzstangen sich in nichts anderem unterscheiden als in der Länge, während Farbe, Breite und Höhe der Stangen gleich bleiben. Nur in der Länge weisen die Stangen wahrnehmbare Unterschiede auf. Drei Fragen soll das jeweils eine Eigenschaft heraushebende Material dem Kind bei seiner Wahrnehmungs- und Einordnungs-Übung beantworten: "Identität: Welche Gegenstände sind gleich? Unterscheidung: Wie unterschiedlich sind die Extreme des jeweiligen Materials? Abstufung: Wie lassen sich die unterschiedlichen Gegenstände in eine Reihenfolge bringen?

Übungen des täglichen Lebens

Neben der Schulung mit den Sinnesmaterialien, in dem der Ordnungssinn des Kindes angesprochen wird, sind auch die Übungen des täglichen Lebens wichtig: Diese sollen die Unabhängigkeit der Kinder von den Erwachsenen stärken. Ein Kind, das sich alleine anziehen kann, das sich selbst waschen und die Zähne putzen kann, ist selbständiger und weniger auf die Hilfe der Eltern angewiesen. Auch haben die Übungen des täglichen Lebens einen wichtigen sozialerzieherischen Sinn: Die Kinder können dabei z.B. lernen, andere Menschen zu begrüßen, den Tisch für eine Gruppe zu decken und insgesamt für die Pflege der gemeinsamen Umgebung Sorge zu tragen. Indem Kinder die Aufgaben des täglichen Lebens ausführen, werden sie zunehmend verantwortlich für das soziale Miteinander in einer gemeinsam gestalteten Umgebung. Neben den Übungen des täglichen Lebens gibt es in der Pädagogik Maria Montessoris auch Gruppenübungen: "das Gehen auf der Linie" und die "Stilleübungen". Beim Gehen auf der Linie ist auf dem Boden eine Linie in Form einer Ellipse aufgezeichnet, auf der die Kinder gehen sollen, ohne den Strich zu verlassen. Die Übung soll das Gleichgewicht und die Ordnung in der Bewegung des Kindes fördern. Damit soll dem Kind natürlich nicht seine Bewegungsfreiheit genommen werden, so dass es sich nur noch auf Anweisung der Erzieherin zu bewegen wagt. Das Gehen auf der Linie soll das Kind zunehmend darin sicherer machen, den eigenen Körper selbst zu beherrschen. Eine weitere Übung ist die Stilleübung: Diese ist nicht dazu da, um ein unruhiges Kind zu disziplinieren, vielmehr versteht Maria Montessori unter "Stille" eine aktive Haltung des Kindes. Die Kinder sitzen dabei auf ihren Stühlen und die Erzieherin fordert leise die Kinder dazu auf, still zu sein. Es wird vollkommen ruhig im Raum und plötzlich vernimmt man Geräusche, die bisher noch nie aufgefallen sind. Dann geht die Erzieherin in einen Nebenraum und flüstert den Namen eines jeden Kindes. Das aufgerufene Kind versucht daraufhin möglichst geräuschlos zur Erzieherin zu gehen. Wenn jedes Kind an der Reihe war, ist die Übung beendet. Die Stilleübung soll angesichts einer hektisch und laut gewordenen Welt wieder das Gefühl von Stille (auch im Sinne von innerer Ruhe) vermitteln, um so die Konzentrations- und Denkfähigkeit der Kinder zu fördern.

Die Erzieherin als "neue Lehrerin"

Neben den Übungen ist in der Erziehungspraxis für Maria Montessori die Erzieherin selbst ein weiterer entscheidender Faktor. Montessori fordert eine "neue" Lehrerin und Erzieherin, die Respekt hat vor den Entwicklungskräften des Kindes und darum weiß, dass das Entscheidende im Erziehungsprozess nicht von ihr, sondern von den Kindern kommt. Ihre Aufgabe besteht darin die Kinder aufmerksam zu beobachten und ihnen Hilfestellungen zu geben bei einem Prozess, der letztendlich nur vom Kind selbst vollbracht wird.

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