Magische MärchenweltMärchen helfen zu verstehen

Viele Eltern halten Märchen für zu spannend und grausam, um sie ihren Kindern vorzulesen. Dabei sind Märchen ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung des Kindes und helfen ihnen, Schicksale in der Welt zu verstehen.

Magische Märchenwelt: Märchen helfen zu verstehen
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Märchen" befand der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim Mitte der siebziger Jahre. Sein gleichnamiges Buch ist schon lange ein Standardwerk, der Titel fast ein geflügeltes Wort geworden. Zwar wurden Märchen auch immer wieder als von gestern abgetan. Außerdem waren und sind Eltern verunsichert, ob sie ihren Kindern diese oft brutal daherkommenden Geschichten wirklich zumuten sollen. Doch die Erzählungen von Rotkäppchen, Rapunzel und Co. sind beliebt wie eh und je. Und bis heute hören Kinder gefesselt zu, wenn es heißt: "Es war einmal ..."

Märchen weisen einen Weg

Ehe sie sich versehen, werden die Hauptfiguren eines Märchens in schicksalhafte Situationen versetzt: Es gilt den Tod der Mutter zu bewältigen, die Begegnung mit Wolf oder Hexe zu überstehen oder missgünstige Geschwister auszuhalten. Das sind Notlagen, die bewältigt werden müssen - und die am Ende durch eigene Kraft oder die Hilfe anderer auch bewältigt werden. Die Belohnung ist stets ein Zugewinn an Erfahrung und Reife sowie ein glückliches Leben. Das Besondere dieser Erzählform: Hier geht es nicht um individuelle Erlebnisse, einzigartige Persönlichkeiten oder spezielle innere Konflikte. Stattdessen thematisieren Märchen Erfahrungen, Situationen oder Gefühle, mit denen alle Menschen - auch Kinder - im Laufe ihres Lebens konfrontiert werden: Sehnsucht, Schmerz, Freude, Verlustangst, Hoffnung, Rachsucht, Mitleid, Stärke und Schwäche. Gerade Kindern wird die Einfühlung in den jeweiligen Konflikt durch die klare und allgemeingültige Darstellung des Märchens erleichtert:

  • Im Mittelpunkt steht der Mensch und seine Begegnung mit der Welt, geschildert wird nur das für die Handlung Nötige.
  • Das Gute und das Böse sind eindeutig zu erkennen, die Identifizierung fällt leicht.
  • Die als Typen gezeichneten Hauptfiguren sind dem Leben zugewandt und durchlaufen einen Entwicklungsprozess, der sie weiterbringt.

Dieser eindeutige Erzählrahmen, gekrönt von einem glücklichen Ausgang, vermittelt Vertrauen und Hoffnung, die sich auf die kleinen Zuhörer übertragen. Bruno Bettelheim fasst die positive Botschaft der Märchen so zusammen: "Der Kampf gegen die heftigen Schwierigkeiten des Lebens ist unvermeidlich und gehört untrennbar zur menschlichen Existenz, wenn man aber nicht davor zurückschreckt, sondern den unerwarteten und oft ungerechten Bedrängnissen standhaft gegenübertritt, überwindet man alle Hindernisse ..."

Facetten des märchenhaften Stils

"Es war einmal", "Als das Wünschen noch geholfen hat", "Und wenn sie nicht gestorben sind" - das sind einige der Sprachformeln, die wir automatisch mit dem Stichwort Märchen verbinden. Auch finden sich in vielen Märchen bedeutungsvolle Zahlen - sieben Raben, sieben Zwerge - sowie Sprachspiele und Reime, die oft wiederkehren: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Diese Formeln geben der jeweiligen Geschichte eine feste Struktur. Zusammen mit der altertümlich-stilisierten Sprache verleihen sie ihr auch eine magische, überzeitliche, bis heute faszinierende Ausstrahlung. Bei Kindern vermittelt dieser besondere Märchenstil mit seinen wiederkehrenden Momenten ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, welches ihnen das Zuhören umso angenehmer macht.

Doch was ist mit den blutigen und abgründigen Elementen in vielen Märchen, mit dem Fressen und Gefressen werden? Hier kommt noch einmal der außerordentliche Symbolgehalt dieser Erzählform ins Spiel - mit bildhaften Aussagen, die von Kindern durchaus verstanden werden: Die Hexe in "Hänsel und Gretel" ist keine reale Person - sie verkörpert das Böse, das aus eigener Kraft besiegt werden muss deshalb auch bestraft werden darf - übrigens spielt das Mädchen Gretel dabei die entscheidende Rolle.

Märchenstunde

Der Märchenforscher Max Lüthi spricht vom "eigentlichen Märchenalter zwischen dem 5. und dem 10. Lebensjahr". Zumindest zu Anfang dieser Phase können die Kinder noch nicht selbst lesen und freuen sich darauf, Märchen von den Eltern oder anderen vertrauten Personen vorgelesen zu bekommen. Gestalten Sie diese Lesestunden ruhig und kuschelig - Zeit für einen vom Kind gewünschten Austausch inbegriffen. Das schafft eine ganz besondere Vertrautheit und verdoppelt sozusagen die Botschaft der Märchen. Für kleine Kinder eignen sich die Märchen der Brüder Grimm am besten, größere Kinder schätzen auch die Märchen von Hans Christian Andersen. Sperren Sie sich nicht, wenn Ihr Kind ein bestimmtes Märchen wieder und wieder hören will. Vielleicht bewegt genau diese Geschichte gerade etwas in seinem Inneren - und vielleicht springt die eigentümliche Magie dieser im Wortsinn wunderbaren Erzählform dann auch auf Sie über.

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