Die Welt aus KinderaugenIch zeig dir mal was

Die Welt mit Kinderaugen zu sehen ist eine Chance, die nur Eltern haben. Und wer die Welt einmal durch Kinderaugen gesehen hat, der kann auch das eigene Kind in sich wieder entdecken und die Welt neu erleben.

Die Welt aus Kinderaugen: Ich zeig dir mal was
© gänseblümchen - Pixelio

Timmi malt ein Bild. Ein großes Haus zeich-net er, mit vielen Fenstern und einer hohen Tür. Daneben steht er selbst, die Füße fest auf der Erde und so groß wie der Baum neben ihm. Der Himmel ist aus vielen Farben komponiert, und violett leuchtet das Gesicht der Sonne. "Ein schönes Bild hast du gemalt", sagen seine Eltern, und Timmi freut sich. Aber das, was er da zu Papier gebracht hat, ist mehr als ein schönes, an-sprechend farbiges Bild. In dieses Bild hat Timmi seine Seele gelegt. In der frühen Kindheit geht es einem Kind noch nicht darum, "schön" zu zeichnen oder zu malen; es drückt durch Linien und Farben das aus, was es fühlt und noch nicht verbalisieren kann. Voller Leidenschaft und mit ganzem Einsatz formt das Kind ein sichtbares Stück seines Ich auf dem Papier.

"Früher zeichnete ich wie Raphael, aber ich brauchte mein ganzes Leben, um zeichnen zu lernen wie ein Kind", schrieb der Maler Pablo Picasso. Ein meister-hafter Künstler, weltbekannt und hochgeehrt, möchte sein perfektes Können vergessen und wieder so malen wie ein Kind? Warum kommt uns diese Aussage absurd vor? Weil es die Intuition, das Kindlich-Archaische, über Erfahrung und Meisterschaft stellt, das Unverstellte über Perfektion und gewohnte Ästhetik. Wie die meisten kreativen Menschen aber wusste Picasso, dass der Ursprung der Kreativität in der Seele liegt. Und er wusste: Wer schöpferisch tätig sein will, der muss von den Kindern lernen, das eigene Kind in sich wiederzuerwecken.

Jeder Tag ein Abenteuer

Von unseren Kindern können wir den naiven, neugierigen und unverbrauchten Blick auf die Welt lernen. Jeder Tag ist ein Abenteuer für das Kind, und gar nicht früh genug können die Füßchen morgens durch die Wohnung trippeln auf der Suche nach neuen Erfahrungen. "Lass uns noch ein bisschen schlafen", brum-meln die Eltern, froh, wenn sie die Alltagsroutine noch ein wenig vor sich her-schieben können. Routine? Ein kleines Kind weiß noch nicht, was das ist. Alles ist neu, alles. Und wer versucht, die Welt aus der Kniebeuge zu betrachten, aus der Sicht seines Kindes, der wird sie auf einmal mit ganz anderen Augen wahrneh-men. Nur müssen wir bereit sein, das Verhältnis zwischen Kind und Erwachse-nem, zwischen Lernendem und Lehrendem, einmal umzudrehen und das Kind als Lehrmeister für Dinge zu akzeptieren, die in uns verschüttet wurden.

kizz Tipp

  • Versuchen Sie, die Welt aus der Kniebeuge neu zu entdecken; scheuen Sie sich nicht, Bekanntes mit den Augen Ihrer Kinder neu zu entdecken.
  • Bedenken Sie: Ursprung jeder Kreativität ist die kindliche Sicht auf die Welt, die Neugier, der spielerische Umgang mit dem selbstverständlich Gewordenen.
  • Sehen Sie Ihr Kind nicht als "unfertig" an: Es ist ein Mensch in einer anderen Lebensphase als Sie selbst mit anderen psychischen und physischen Voraussetzungen.
  • Erlauben Sie es sich, ab und zu aus der Rolle des erziehenden und belehrenden Erwachsenen auszusteigen. Steigen Sie in die Rolle des Lernenden ein! Was wir in Therapien eventuell mühsam wiedererlernen müssten, kann uns das Leben mit unseren Kindern ganz selbstverständlich schenken.

Und es gibt eine Menge, das unsere Kinder uns beibringen können. Die Konzentration etwa, mit der sie spielen. Ganz versunken sind sie im Augenblick, nicht ansprechbar in ihrer Tätigkeit. Timmi zum Beispiel. Wenn er mit seinem Pappkarton-Auto im Dschungel unterwegs ist, hört er kaum die Stimme seiner Mutter, die mit der Jacke in der Hand da steht und ruft, weil sie nun endlich weggehen will. Wir Erwachsenen haben tausend Dinge im Kopf und ständig Termine und danach die nächsten Termine, und längst haben wir die Fähigkeit verloren, den Augenblick intensiv zu erleben. Es fällt uns schwer, uns zu konzentrieren, und manchmal nehmen wir auch unseren Kindern diese Fähigkeit schon sehr früh, wenn wir sie zu oft aus ihrer Beschäftigung reißen. Mütter oder Väter, die sich Zeit nehmen für das Spielen mit ihren Kindern, sich einlassen in die Spielwelt ihrer Kinder, können sich so ein Stück Konzentrationsfähigkeit und Freude am Augenblick zurück erobern.

In Therapien und Seminaren lernen gestresste Erwachsene, ihre Kreativität und Sinnlichkeit neu zu entdecken. Eltern brauchen dazu keine Therapeuten, sie müssen nur bereit sein, von ihren Kindern etwas anzunehmen. Kinder sind keine unfertigen Erwachsenen, die wir möglichst schnell auf unser Niveau trimmen sollten. Sondern Menschen in einer ganz bestimmten Entwicklungsphase, die sie in aller Ruhe durchlaufen müssen. Sie brauchen nicht den ständigen Antrieb von außen, um sich weiter zu entwickeln. Das tun sie ganz allein.

Das Kind in uns ist nicht fern

Oft ist uns das archaische, noch unpolierte Verhalten unserer Kinder nicht so ganz geheuer. Das Streiten zum Beispiel. Kinder streiten leidenschaftlich, bedingungslos. Da wird gehauen und geschubst, gebrüllt und geweint - und nach einer Weile hat sich jeder am Gegenüber abgearbeitet und alles ist vergessen. Und wir Erwachsenen? Wir suchen Argumente, tauschen wohl überlegte Anfeindungen aus. Schmerz und Wut bohren sich noch tagelang in die Seele, und lange brauchen die Narben, um zu verblassen. Kinder dagegen belasten mit ihrer Art zu streiten nur die Nerven ihrer Mitwelt, aber nicht ihre Seele.

Unsere Kinder haben die Kraft, bei ihren Eltern die Erinnerung an die eigene Kindheit hervorzubringen. Wer mit seinen Kindern durch den Wald streift und sich einlässt auf die magische Landschaft mit den vielen Zauberwesen, dem wird der Geruch von Moos und fauligen Blättern aus der Kinderzeit bald in der Nase kitzeln. Wer abends beim Vorlesen der Gute-Nacht-Geschichte die Spannung und Freude der Zuhörer erlebt, der wird sich zurück versetzen können in die Wunderwelt, die er mit Pippi Langstrumpf oder den wilden Kerlen teilte. Das Kind in uns selbst ist gar nicht so fern.

Kinderlose können am Wochenende ausschlafen, in den Urlaub fahren wann sie wollen und haben mehr Geld auf dem Konto. Aber sie besitzen nicht diese einmalige Chance, die wir Eltern nutzen sollten: ein Stück weit auszusteigen aus dem Erwachsenentrott und all unsere Sinne neu zu entdecken.

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