Die WaldorfschuleDas Kind im Mittelpunkt

Waldorfschulen bieten einen anderen pädagogischen Blick auf unsere Kinder und ihre Erziehung. Die früheren Steiner-Schulen avancierten zur heutzutage größten von der Kirche unabhängigen Schulbewegung.

Das Kind im Mittelpunkt
Waldorfschulen fördern die handwerklich-künstlerischen Talente von Kindern © shironosov - iStock

Unter den zahlreichen reformpädagogischen Initiativen in Deutschland sind die Waldorfschulen vielleicht die erfolgreichste. Nach ihrem Begründer Dr. Rudolf Steiner auch "Steiner-Schulen" benannt, ist die Zahl der Schulen in Deutschland seit Anfang der 70er Jahre, als es 32 Schulen gab, auf heute über 240 angestiegen. Weltweit arbeiten gegenwärtig 1150 Waldorfschulen nach Steiners Pädagogik.

Die Waldorfpädagogik ist damit die größte von Staat und Kirche unabhängige Schulbewegung. Aber sie ist auch leidenschaftlich umstritten. Betreiber und Freunde preisen das große pädagogische Engagement der dort tätigen Lehrer und die ganzheitliche Didaktik. Kritiker sehen in Rudolf Steiners Anthroposophie keine wissenschaftliche Theorie, sondern eine religiöse oder esoterische Lehre.

Pädagogik "vom Kinde aus"

Rudolf Steiner entwickelte sein pädagogisches Konzept, das schließlich 1919 zur Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart führte, auf dem Hintergrund einer massiven Kritik der Erziehungsinstitutionen seiner Zeit. Nicht die Erwartungen der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Staates sollen die Leitlinien der Pädagogik vorgeben - es soll "vom Kinde aus" gedacht werden. Bei Steiner mündet die Ablehnung der "einseitigen materialistischen Weltanschauung" in den Versuch, die geistige Dimension des Lebens unermüdlich zu betonen. Nicht die Pflanze selbst, sondern ihr geistiges Bauprinzip, nicht der Schüler selbst, sondern die in ihm inkarnierte Seele stehen in der Waldorfpädagogik im Zentrum. Das Geistige ist dabei kein abstraktes Etwas, sondern das in allen Dingen wirksame Gestaltungsprinzip, und es ist die Aufgabe der Pädagogik, dies wo immer möglich zu berücksichtigen und erfahrbar zu machen. Die anthroposophische Auffassung der "höheren Wirklichkeit des Geistigen" ist dabei für Außenstehende nicht immer leicht zu verstehen; sie treibt teilweise bizarre Blüten, zeitigt aber in der Praxis auch fruchtbare Konsequenzen.

Der Glaube an die Seelenwanderung etwa bedeutet, dass jeder schon einmal auf der Welt war und aus seinen früheren Inkarnationen Prägungen und Belastungen mitbringt, die es abzuarbeiten gilt (Reinkarnation und Karma). Dies führt pädagogisch zu Geduld, Rücksicht und Wertschätzung auch schwächeren oder behinderten Schülern gegenüber. Auch wenn manche pädagogische Bemühung in deren aktuellem Leben vielleicht keine sichtbaren Resultate zeigt, spätestens im nächsten Leben werden sie davon profitieren.

Schulorganisatorische Besonderheiten

Als erste echte Gesamtschule Deutschlands lehnt die Waldorfschule die äußere Differenzierung der Schüler nach Leistung grundsätzlich ab. Alle Menschen haben, unabhängig davon, welchen Beruf sie später einmal ergreifen werden, einen "Anspruch auf die vollkommenste Erziehung." Als zwölfjährige Einheitsschule konzipiert, sollen in ihr spätere Fabrikarbeiter und Bankdirektoren, Künstler und Sachbearbeiter gemeinsam unterrichtet werden. Damit wird auch die oft bis zu 40 Schüler umfassende Klassenstärke begründet. Kleinere Gruppen könnten die erstrebte Bandbreite der Charaktere und der sozialen Schichten kaum gewährleisten. Es sind also nicht (nur) ökonomische Notwendigkeiten, die für die vergleichsweise großen Klassen verantwortlich sind. Die Klassengröße ist übrigens ein Punkt, der auch innerhalb der Waldorflehrerschaft seit einigen Jahren als immer problematischer erlebt wird, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass Waldorfschulen eine stabile Beziehung zwischen Lehrern und Schülern ermöglichen (Klassenlehrerprinzip) und der Fachunterricht schon früh in halben oder Drittel-Klassen erteilt wird.

Die Rolle der Eltern

Wer sein Kind auf eine Waldorfschule schickt, muss sich darüber im Klaren sein, dass damit Verpflichtungen verbunden sind, die weit über das an staatlichen Schulen Übliche hinausgehen. Von den Eltern wird erwartet, dass sie sich Stück für Stück mit der Steinerschen Pädagogik vertraut machen und auch zu Hause im Geiste der Waldorfpädagogik erziehen. Es wird heute sicher nicht mehr an allen Waldorfschulen verlangt, dass Fernsehen und Fußball für die Schüler tabu sind. Man darf sich aber nicht wundern, wenn der Waldorflehrer auch für Bekleidung (Naturmaterialien) und Speiseplan (möglichst wenig Zucker) - möglicherweise ungefragt - Ratschläge bereithält.

Die Begegnungen der Waldorfeltern mit "ihrer" Schule sind äußerst zahlreich: Elternabende, Jahresfeste, Monatsfeiern, Schuljahreseröffnungs- und Abschlussfeiern, regelmäßige Hausbesuche des Klassenlehrers, Elternsprechstunde, künstlerische Kurse für Eltern und Tage der offenen Tür. Die Basare, z.B. vor Weihnachten, fordern von den Eltern schon bei der Vorbereitung, etwa bei der Herstellung von Spielzeug, beim Backen und Kochen, engagierte Mithilfe. Und wenn in der Schule an- oder umgebaut wird, legen Eltern selbstverständlich selbst Hand an - und zwar nicht nur beim ersten Spatenstich.

Pädagogische Prinzipien

Dass sich der Mensch aus Leib, Seele und Geist zusammensetze und diese drei Glieder in der Erziehung gleichrangig zu fördern seien, ist eine alte Weisheit. In der Waldorfpädagogik wird dementsprechend auch die körperliche Entwicklungsförderung sehr ernst genommen. Praktisch bedeutet das: neben dem Sport- und Eurythmieunterricht werden durch Plastizieren, Schnitzen, Tischlern, Metallarbeiten, Schmieden, Steinmetzen, Stricken, Häkeln, Sticken, Schneidern, Filzen, Flechten, Schuhmachen, Spinnen, Weben, Flöten, Leierspielen, Malen, Zeichnen und Buchbinden die unterschiedlichsten Bewegungsintelligenzen ausgebildet.

Haben Kunst und Handwerk einen hohen Stellenwert im Waldorflehrplan, so wird auch der gesamte Unterricht von musisch-künstlerischen Impulsen durchzogen: Gesang, Gedicht, Malerei und Handwerk gehören vor allem im "Epochenunterricht" eigentlich immer dazu. Im allmorgendlichen zwei Stunden umfassenden Epochenunterricht wird jeweils für drei bis vier Wochen ein übergreifendes Thema aus der Perspektive verschiedener Fächer erarbeitet (Beispiele: "Der Wald", "Griechenland", "Renaissance"). Es gibt zumindest in den unteren Klassen keine Schulbücher, statt dessen malen und zeichnen sich die Schüler nach Wandtafelvorlagen selbst ihre Epochenhefte. Die starke Stellung des Klassenlehrers lässt sich daran ablesen, dass er bis zur achten Klasse möglichst viele (anfangs fast alle) Fächer unterrichtet. Ab der neunten Klasse überwiegt dann der Unterricht durch Fachlehrer. Weil die Waldorfschule kein Notenzeugnis kennt, gibt es auch kein Sitzenbleiben. Das Verbleiben in der vertrauten Klassengemeinschaft wird als entwicklungsförderlicher angesehen als die Repetition von Unterrichtsstoff. An die Stelle von Ziffernzeugnissen treten in der Waldorfpädagogik schriftliche Berichte, die auf individuelle Lernfortschritte und auch auf Lernhemmnisse hinweisen. Der Unterricht soll an den altersgemäßen Bedürfnissen und Stärken der Kinder ansetzen. Der Anfangsunterricht in Rechnen und Schreiben versucht dementsprechend Buchstaben als Sinnbilder und Zahlen als Ganzheiten auch gefühlsmäßig erfahrbar zu machen. Fremdsprachen werden bereits ab der ersten Klasse - ebenfalls rein "aus dem Tun heraus", das heißt ohne systematischen Drill von Vokabeln und Grammatik, unterrichtet.

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