Wie viel Schutz braucht das eigene Kind?Kinder dürfen nicht überbehütet werden

Unsere Kinder brauchen viel Schutz und Sicherheit. Jedoch müssen Eltern darauf achten, dass ihre Kinder nicht überbehütet sind. Es muss auch Freiräume geben, in denen Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen können.

Wie viel Schutz braucht das eigene Kind? Kinder dürfen nicht überbehütet werden
© Simon Ebel - Fotolia.de

Käme ein Außerirdischer auf die Erde, der nicht wüsste, dass es auf der Welt Frauen und Männer, Mütter und Väter gibt - er würde es spätestens dann merken, wenn er auf einer Spielplatz-Bank säße. „Sei vorsichtig", hört der Außerirdische inmitten des Kindergezwitschers helle Stimmen rufen. „Halt dich fest!", „Mach dich nicht schmutzig!" Und besonders intensiv die Rufe: „Pass auf!"

Vereinzelt sind tiefere Stimmen zu hören. „Na los!", ertönt es in Tenor und Bass. „Trau dich!", „Das schaffst du!" Der Außerirdische wundert sich: Die hellen Stimmen klingen besorgt und aufgeregt, die tiefen Stimmen ermunternd. Das müssen sehr unterschiedliche Menschenwesen sein!

Mütter gehen mit Kindern anders um als Väter, das ist kein Geheimnis. Das Bedürfnis, das Kind während der Schwangerschaft zu schützen, endet nicht mit der Geburt. Die meisten Mütter sehen das Wohlergehen ihres Kindes als ihre ureigene Sache an - und oft fällt es ihnen schwer, einen Teil der Verantwortung abzugeben. Ebenso wie es ihnen schwer fällt, dem Kind selbst die Einschätzung darüber zuzugestehen, was es kann und wo es noch Hilfe braucht. Mütterliche Liebe hat manchmal etwas sehr Besitzergreifendes und Vereinnahmendes.

Was Überbehütung bewirkt

„Das kannst du nicht!" - Diese Botschaft empfängt das Kind, wenn es von jedem Risiko ferngehalten wird. Es will rennen, so schnell wie der Wind ... „Pass auf, sonst fällst du!" Es setzt seinen Fuß auf die unterste Astgabel und beginnt, einen Baum zu erklimmen: „Komm da sofort runter!" Es will abends seinen Schlafanzug allein anziehen: „Komm, ich helfe dir!"

Doch nur durch Übung kann Sicherheit und Geschicklichkeit wachsen. Wer sich nie ausprobieren und trainieren kann, der bleibt ungeschickt. Wer sich dagegen Herausforderungen stellt - und dabei auch seine Grenzen erfährt -, der entwickelt Geschick und Körperbewusstsein.

Aus den Reaktionen aufs eigene Tun baut jeder Mensch sein Selbstbild auf. Stellen Sie sich vor, Sie wollten Kartoffeln schälen und Ihre Freundin, die gerade zu Besuch ist, begänne entsetzt zu kreischen: „Achtung! Schneid dich nicht!" Wie verunsichert wären Sie bei diesen Warnrufen! Und wie irritiert würden Sie dann an die Arbeit herangehen! Vermutlich würden Sie sich nun sogar erst recht schneiden, denn Angst macht ungeschickt. Und wetten, dass Sie sich künftig am liebsten um diese Arbeit drücken würden?

Sicher, Kinder haben noch nicht die Routine der Erwachsenen. Aber hätten Sie das Kartoffelnschälen je gelernt, wenn Sie ständig auf die Gefahren beim Hantieren mit dem Messer hingewiesen worden wären? Kinder müssen trainieren, üben, sich ausprobieren. In den meisten Fällen wissen sie ziemlich genau, was sie sich zutrauen können und was nicht. Darum: Sparen Sie sich diese verbalen Signale für Situationen auf, in denen es wirklich gefährlich wird. Aufgeschürfte Knie und blaue Flecken sind in einem aktiven Kinderleben eine ganz normale Begleiterscheinung.

Umgang mit der eigenen Angst

Angst hat mit Phantasie zu tun: mit der Vorstellung davon, was alles passieren könnte. Wenn das Kind die Rutsche erklimmt - o Gott, hoffentlich geht das gut! Es könnte abstürzen von da oben, hoffentlich ist ein Arzt in der Nähe. Blaulicht, Intensivstation. Der Horror spiegelt sich in Blick und Gestik. Das Kind da oben aber, das ist irritiert. Was hat die Mama nur. Sieh doch mal, wie schnell ich heruntersause!

Die eigene Angst in den Griff zu bekommen ist nicht einfach. Auch das ist ein Lernprozess. Je häufiger Sie gesehen haben, dass Ihr Kind vorsichtig und sicher die Treppe überwunden hat, umso zuversichtlicher werden Sie sein, dass Ihr Kind brenzlige Situationen bewältigt.

Zwingen Sie sich, nicht immer gleich Hilfestellung zu geben, sondern begleiten Sie die kleinen Mutproben mit wachem Blick. Wenn es wirklich gefährlich wird, können Sie immer noch eingreifen. Nehmen Sie Ihrem Kind nichts ab, was es schon allein kann. Es braucht Vertrauen in seine Fähigkeiten, um Selbstvertrauen zu gewinnen. Ein Kind zu stark zu behüten bedeutet, es nicht ernst zu nehmen. Wie soll es lernen, sich selbst einzuschätzen, wenn ihm ständig gesagt wird, was es schon kann und was nicht? Wie soll es lernen, mit anderen Kindern auszukommen, wenn die Eltern es vor jeder Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen bewahren? Denn auch der Kontakt zu anderen Kindern ist Eltern oft nicht ganz geheuer. Ein anderes Kind nimmt unserem Schatz ein Spielzeug weg und unser Kind reagiert mit Wut und Aggression? Meist können die kleinen Kontrahenten ihre Probleme ganz allein lösen und brauchen nicht den gut gemeinten Richterspruch der Eltern. Mütter und Väter müssen es aushalten, dass Kinder, sofern es nicht wirklich bedrohlich wird, ihre Belange unter sich regeln. Überbehütung hat nichts mit Geborgenheit zu tun, sondern ist mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes. Sie nimmt dem Kind die Möglichkeit, durch Erfahrung klug zu werden.

Wann muss Kontrolle sein?

Die Segnungen unseres modernen Lebens sind im Entwicklungsplan der Kinder nicht vorgesehen. Küchenmaschinen, Autos, Steckdosen ... das sind Dinge, mit denen ein neugieriges Kleinkind noch nicht umgehen kann. Vor Schaden, den das Kind sich selbst und anderen zufügen könnte, muss es bewahrt werden, bis es alt genug ist, das wirklich zu verstehen und entsprechend zu handeln. Bis es soweit ist, sind strikte Regeln angebracht.

Wer über die Straße geht, darf sich nicht von Mamas Hand befreien. Wer sich im Auto nicht anschnallen lassen will, darf nicht mitfahren. In diesen wirklich riskanten Lebensbereichen muss das Kind - ausnahmsweise - konditioniert werden. Am Bordstein heißt es: Stopp! An der Ampel bleiben wir stehen. Der Herd ist tabu. Später, wenn das Kind älter ist, werden die Regeln natürlich erklärt.

Wie viel Schutz und Behütetwerden ein Kind letztlich braucht, richtet sich nach seinem Alter - je jünger, desto mehr -, aber auch nach seinem individuellen Entwicklungsstand. Ob ein Kind schon geschickt genug ist, mit einem Messer zu hantieren oder ungefährdet die steile Treppe hinabzusteigen, hängt entscheidend von den Vorerfahrungen ab: Ist das Kind daran gewöhnt, seine Geschicklichkeit in relativ gefahrlosen Situationen auf die Probe zu stellen, wird es riskante Situationen eher bewältigen können.

Lückenlose Überwachung

Der „Big Brother" aus George Orwells Roman „1984" sorgte für Verstörung. Lückenlos werden die Menschen in diesem Roman überwacht, es gibt kein Privatleben, keine Zuflucht vor der staatlichen Kontrolle. Ein Horror-Plot. Oder?

Eltern haben heute die Möglichkeit, ihre Kinder per Handy überall zu orten. In den USA können Eltern über die Satellitennavigation des GPS jederzeit sehen, wo sich ihre Kinder gerade aufhalten, in Europa bietet das Handy-Netz Orientierung. Besonders beliebt sind die Phonetracker, kleine Zusatzgeräte, die, an das Handy des Kindes angeschlossen, dem Kind unbemerkt mitgegeben werden. Den Eltern zeigt das Gerät, in welchem Radius ihr Kind sich bewegt. Auf 50 Meter genau können die Eltern ihr Kind orten. Inzwischen denken die Entwickler aus dem Mutterland der Kontrolle, den USA, über einen Chip nach, der den Kindern unter lokaler Betäubung in die Haut gepflanzt wird. Damit, sagen die Hersteller, könnten Entführungen verhindert werden.

Doch viel zuverlässiger als jedes Überwachungssystem scheint doch das selbstbewusste Handeln des Kindes zu sein. Es muss wissen: Ich darf „Nein" sagen, wenn ich etwas nicht will. Ich suche mir Hilfe, wenn ich Gefahr spüre. Ein solches Selbstbewusstsein kann nur wachsen, wenn das Kind weiß: Meine Eltern beschützen mich, sie geben mir aber auch die nötige Freiheit.

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